Ersteindruck – »Josie, der Tiger und die Fische« ist eine altbekannte, aber schöne Geschichte

Warum immer auf eine Review nach Abschluss der Serie warten, wenn man sich schon nach der ersten Episode beziehungsweise dem ersten Band einen Eindruck bilden kann? Da setzt Ersteindruck an und gibt schon einmal einen Ausblick darauf, ob es sich lohnt, dem Anime oder Manga eine Chance zu geben oder nicht.

Josie, der Tiger und die Fische - Visual
Titel: Josie, der Tiger und die Fische
Genre: Romance, Drama
Studio: Bones
Jahr: 2020
Länge: 1h 38min
Publisher: Kazé Anime
Kinostart: am 30. November im Kino

Ich habe einen gewissen Ruf in der Redaktion. 39 Prozent meiner geschauten Anime sind Filme – Tendenz steigend – und jedes Jahr nehme ich in Deutschland alles an Filmfestivals für Animefilme und japanische Filme mit, wofür ich Tickets kriegen kann. Wie soll ich sagen? Die Herausforderung, aus begrenzter Zeit das Beste rauszuholen, reizt mich einfach. Aber auch ausländische Filmfestivals sind vor mir nicht sicher, solange sie den Streifen zumindest mit englischen Untertiteln zeigen und so beschleicht mich, nachdem ich nun »Belle« und »Looking for Magical Doremi« gesehen habe, das Gefühl, dass die Zeit, beidseitiger Liebe auf den ersten Blick als nahezu einzige Möglichkeit eine romantische Geschichte zu erzählen, zugunsten realistischerer Beziehungsgeschichten gezählt ist. Ist »Josie, der Tiger und die Fische« die Antithese zu diesem Trend?

(Zusammenfassung)

Die 24-jährige Kumiko liebt das Meer und hat sich mit Büchern und dem Malen eine eigene Fantasiewelt erschaffen, denn sie selbst ist noch nie im tiefen Blau geschwommen. Nur in ihren Träumen taucht sie wie eine Meerjungfrau durch eine farbenprächtige Unterwasserwelt voller Gebäude und Fische. Aufgewachsen bei ihrer überängstlichen Großmutter, hat sie überhaupt noch sehr wenig von der Welt gesehen. Denn Josie, wie sie genannt werden will, sitzt von Geburt an im Rollstuhl. Nach dem Zusammenprall ihrer Enkelin mit dem Studenten Tsuneo bei einem ihrer seltenen Spaziergänge, stellt die 80-Jährige den jungen Mann ein. Er soll sich tagsüber um Josie kümmern. Der angehende Meeresbiologe, der für sein Auslandsstudium in Mexiko spart, nimmt den Job dankbar an. Doch schon nach einem Monat hat er genug von der unverschämten jungen Frau. Einen letzten Wunsch will er ihr aber noch erfüllen, bevor er kündigt – und begleitet sie ans Meer …

Kazé Anime

Mixed Wie der Meister, so der Schüler

Josie, der Tiger und die Fische - Frame 1©2020 Seiko Tanabe/Kadokawa/Josee Project

»I Want to Eat Your Pancreas«-Illustrator loundraw ist an Bord eines Romance-Animefilms ein riesiger Spoiler. Ein Spoiler für eine pure, unschuldige Liebesgeschichte, für eine klassische 3-Akt-Struktur, für einen Tearjerker … und der Ursprung dafür liegt in dem wahnsinnigen Erfolg von »Your Name« und »Weathering with You« an den weltweiten Kinokassen. Keine Frage, Makoto Shinkai, der Regisseur hinter diesen beiden Animefilmen, hatte zweifelsfrei den größten Einfluss auf den Stil des 26-Jährigen. Überbelichtung, viele Reflektionen, malerische Realisation von Fotorealismus – das alles lässt sich auch in »Josie, der Tiger und die Fische« wiederfinden. Aber nicht nur das: unschuldige Liebe, drei Akte, Tearjerker-Momente – alle diese Elemente finden sich auch in den modernen Filmen von Makoto Shinkai.

Der Animefilm ist also nicht der ganz große Wurf, eher ein Feintuning an einer bewährten Formel. Viele Szenen hätten mit Oberschülern als Figuren einen ähnlichen Verlauf genommen und auch Mai (Tsuneos Freundin von seinem Tauchcenter-Job) ist mit ihren Gefühlen für Tsuneo genauso ein Plot Device, der Josie dazu bringen soll, sich ihre Gefühle für Tsuneo einzugestehen und in Aktion zu treten, wie der Zeitdruck, der dadurch entsteht, dass Tsuneo in einem halben Jahr sein Auslandssemester antritt. Die Art, wie Träume mit sich ändernden Lebensumständen kollidieren, ist auf der anderen Seite etwas, was nicht einfach so mit Oberschülern als Figuren hätte exploriert werden können. Zwar aufgrund von Zeitlimitationen nicht außerordentlich tief behandelt, ist es dennoch ein realistischerer Blick auf das Leben, den ich in vielen Filmen dieser Art schmerzlich vermisse.

Plus Solides, literarisches Fundament

Josie, der Tiger und die Fische - Frame 2©2020 Seiko Tanabe/Kadokawa/Josee Project

Ich bin ehrlich. Im ersten Drittel des Films hielt ich das Meerestauchen-Thema nur für visuelles Eye Candy, um den Kinobesuchern mit Unterwasser-Szenen und den lebendig wirkenden CGI-Fischschwärmen ein »Wow!« zu entlocken. Mit dieser These geht zusammen, dass »Josie, der Tiger und die Fische« direkt mit einer solchen Szene einsteigt, die noch dazu mit einem Vocal Track unterlegt ist, der ebenso die Magie des Ozeans einfängt, wie »Henezeve Caradhina« komponiert von Kevin Penkin schon die Magie des Schluchtsystems aus »Made in Abyss« einfing.

Tatsächlich referenziert der Animefilm mehrmals direkt sowie indirekt »Die kleine Meerjungfrau« – ein Märchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen aus dem Jahr 1837, das durch Disneys »Arielle, die Meerjungfrau«, aber auch losere Adaptionen wie Hayao Miyazakis »Ponyo« sowohl diesseits als auch jenseits der westlichen Welt bekannt ist – und ich beginne zu verstehen, welche Bedeutung das Unterwasser-Thema hat. Der Film macht sich zunutze, dass sowohl für die kleine Meerjungfrau als auch für Josie ein Paar gesunde, menschliche Füße die vermeintliche Lösung all ihrer Probleme ist.

Während »Die kleine Meerjungfrau« als Märchen vor allem eine universell verständliche Kernbotschaft beisteuert, nämlich »Wer nicht an sich denkt und sich stattdessen etwas für jemand anderen wünscht, der darf nicht verschwinden!«, formt vor allem ein anderes literarisches Werk Josies Charakter und ihre inneren Konflikte als 24-jähriges Mädchen im Rollstuhl. »Ein verlorenes Profil« ist ein leiser, melancholischer Roman aus den 70er Jahren über Freiheit, Emanzipation und Lebenslügen einer der bedeutendsten Autorinnen Frankreichs, Françoise Sagan, der ebenfalls direkt sowie indirekt referenziert wird. Diese Themen sind gewissermaßen der frische Anstrich für eine ansonsten bereits oft erzählte Geschichte.

Fazit:

Pure, unschuldige Romance-Geschichten sind in meinen Augen nicht die Zukunft des Animekinos. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie über die Zeit verschwinden werden – gerade mit ihrer wahnsinnigen Beliebtheit an der Kinokasse. »Josie, der Tiger und die Fische« ist in dieser Hinsicht gewissermaßen die Fortführung des modernen Shinkai-Kinos. Was ihn von anderen Filmen dieser Art unterscheidet, ist seine tiefgehende, literarische Vorarbeit, die sich gleichwohl bei dem universellen Charakter eines Märchens als auch bei den freiheitlichen Idealen eines Romans unserer Nachkriegsgesellschaft bedient. Für Fans von »Your Name« und »I Want to Eat Your Pancreas« auf jeden Fall zu empfehlen.

»Josie, der Tiger und die Fische« ist bundesweit am 30. November 2021 mit deutscher Synchronisation in über 200 teilnehmenden Kinos in Deutschland und Österreich zu sehen.

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